Die FKT, die “Fastest Known Time”, ist längst auch in Europa angekommen. Auch für Marcel Höche in seiner Heimat, dem Harz. Auf einer 100-km-Strecke wollte er wissen, was auch ohne Startnummer und Chip in ihm steckt!
Text: Marcel Höche; Bilder: Raphael Weber
Perfekt markierte Strecken, All-You-Can-Eat-Büfetts alle 5 km, ein imposanter Start- und Zielbogen, buntes Rahmenprogramm: Welcher Trailrunner wünscht sich nicht, diesen Trubel eines regulären Wettkampfs mal hinter sich zu lassen und sich auf das Wesentliche konzentrieren zu können? Eine FKT macht’s möglich.
Die Idee der Fastest Known Time (FKT) nimmt hier in Europa erst langsam Fahrt auf, während sich auf der virtuellen Plattform in den Staaten bereits Bestzeiten bestimmter Routen einfach und mehrfach sowie gar in verschiedensten Richtungen finden lassen. Größen wie Kilian Jornet und Karl Egloff prügeln sich um die schnellsten Zeiten an den Seven Summits.
Da es sicherlich fordernder ist, eine bestehende FKT zu brechen als die erste Benchmark zu setzen, bin ich sehr froh zu sehen, dass eine der wenigen FKT, die es momentan in Deutschland gibt, tatsächlich in meiner geliebten alten Heimat zu finden ist: Philipp Matzke und Alexander Giebler brachten die rund 100 km lange Punkt-zu-Punkt-Strecke namens Harzer Baudensteig mit knapp 4.000 Hm im Jahr 2015 in 13:52h self-supported hinter sich. Mir ist nicht bekannt, wie ambitioniert die beiden Ultras an die Sache herangegangen sind, und so war ich motiviert, nicht nur schneller als die beiden damals zu laufen, sondern auch eine persönliche Bestleistung auf 100 km Trail aufzustellen.
Auch wenn mein Coach Dmitry Mityaev wenige Wochen nach dem CCC meine Euphorie nicht wirklich teilt, mich schon wieder 100 km rennen zu lassen, ist schnell klar, dass ich dieses Abenteuer unbedingt angehen muss.
Obwohl neben eines recht anschaulichen Trail-Anteils einiges an Waldautobahnen, wie ich sie vor vielen Jahren dort als Mountainbiker noch nannte, zurückzulegen sind, bin ich bezüglich der Strecke Feuer und Flamme. Schließlich passiere ich nach knapp der Hälfte fast mein Elternhaus und quere nach etwa 60 km meinen ehemaligen Schulhof. Emotionaler geht es kaum und so beschließe ich, dem Vorhaben sogar einen Namen zu geben, wie man es eben tut, wenn einem etwas am Herzen liegt. Oder sich damit intensiv auseinandersetzt. Oder eine gesunde Menge Respekt davor hat.
Der Name „Harzrock 100“ mit Anlehnung an den bekannten 100-Meiler in den USA wäre zwar lustig, wird meiner emotionalen Verbindung zur Strecke allerdings nicht ganz gerecht. Deshalb entscheide ich mich für BACK TO THE ROOTS. Schließlich ist der Harz nicht nur deutlich wurzeliger als mein neues felsiges Habitat, die Alpen, sondern auch Geburtsstätte meiner Leidenschaft für den Ultratrail. Bereits 2010 absolvierte ich hier als 15-Jähriger den Oxfam Trailwalker, einen 100-km-Wohltätigkeitslauf. Habe ich damals noch fast 18 Stunden gebraucht, benötige ich neun Jahre später für den deutlich anspruchsvolleren CCC gerade noch gut 13 Stunden. Ich frage mich: Wie viel schneller kann ich diese FKT laufen?
Ende September vergangenen Jahres lade ich also meine GPS-Uhr, virtueller Pacer, einziges Navigationswerkzeug und Beweismöglichkeit meines heutigen Vorhabens in einem, und schnüre meine Schuhe. Die dicke energierückgebende Sohle soll mich, so hoffe ich, auch beim dritten Mal im Jahr 2019 auf der 100-km-Distanz trotz müder Haxen gut über die Runden bringen.
Am Start, einer kleinen Informationstafel im westharzer Bad Grund, neben oder vor der man sich gedanklich irgendwo eine Startlinie vorstellen muss, stehe ich an einem Samstagmorgen um 7 Uhr bereit. Vielleicht war es auch etwas früher – wen interessiert’s?
Von Mitläufern oder Zuschauern ist, wie zu erwarten, nichts zu sehen. Genauso wenig wie von der Sonne. Der Harz zeigt sich so, wie ich ihn kenne: kühl und mystisch neblig.
Im Morgengrauen bringe ich die ersten Kilometer auf seichtem Terrain schnell hinter mich. Ausgerüstet mit einer Filter-Flask stellt die Wasserversorgung dank des Weltkulturerbes Oberharzer Wasserregal absolut kein Problem dar. Für den Bergbau künstlich angelegte Gewässer, Zeugen längst vergangener Zeiten, sind immer in unmittelbarer Nähe. Wie sich erst später herausstellen wird, soll dies auf der zweiten Hälfte nicht der Fall sein. Die Orientierung entlang der Schilder und mithilfe von GPS stellt sich aber größtenteils problemlos dar. Wohl auch meine anfänglichen Bedenken bezüglich der Akkulaufzeit.
Der bald bevorstehende Mittelteil um meinen Heimatort Bad Lauterberg ist der mir am meisten vertraute und gleichzeitig der anspruchsvollste. Ein Großteil der knapp 4.000 Hm konzentriert sich hier auf tollen Trails.
Über soziale Netzwerke hatte ich mein Vorhaben angekündigt und sofort von Privatpersonen, aber auch von Restaurants in meiner Heimatstadt Verpflegung zugesagt bekommen. Wie gern ich auch jeder Einladung nachkommen würde, reduziere ich meinen Plan auf einen einzigen Stopp im Stadtzentrum meiner Heimat. Nach über 50 km gönne ich mir hier eine kurze Stärkung und fülle meine Vorräte mit zuvor deponierten Gels und Fruchtbars auf.
Basierend auf meiner Verfassung nach guten 5:30h ist der FKT zwar zum Greifen nahe, das Best-Case-Szenario von sub10 aber wohl leider weniger realistisch. Trotzdem mache ich mich entschlossen auf den Weg. Als ich meine Oma, den Tränen nahe, kurz nach meiner Verpflegungspause überrasche, ist für wenige Sekunden alles andere nebensächlich.
Trotz Suppe wenige Kilometer zuvor verlässt mich die Energie, wie ich sie noch beim CCC genießen konnte, allmählich. Kilometer 60 markiert mein ehemaliger Schulhof. Wahrscheinlich fühle ich mich hier erschöpfter als während des ein- oder anderen Samstagunterrichts nach einer durchzechten Freitagnacht. Viel hat sich seit meinem Abitur 2012 getan: Weder gibt es hier noch Unterricht an Samstagen, noch hätte ich weiterhin die Energie, freitags auszugehen und am Samstag die Schulbank zu drücken. Zumindest kann ich es mir gerade nur schwer vorstellen.
Mit einem alten Ultra-Trick, nämlich sich die Strecke in kleine Stücke zu unterteilen, versuche ich mich über Wasser zu halten: Berg, Dorf, Berg, Dorf und dann nur noch ein paar Kilometer flach. Dann habe ich das Ende des Fernwanderwegs, das Kloster Walkenried, erreicht. Leider ist der nächste Berg lang und gewässerlos, sodass ich ordentlich dehydriere. Dies trägt nicht unbedingt zur Verbesserung meiner Verfassung bei, genauso wenig wie der Platzregen, der allerdings von einem Regenbogen kurze Zeit später verdrängt wird.
Mittlerweile bin ich dankbar über jeden Anstieg, der steil genug ist, ihn guten Gewissens powerhiken zu können. Doch auch auf flacheren Stücken mache ich nun Gehpausen. Vor allem aber schmerzen die Downhills. Zu meiner Erleichterung finde ich einen Fluss, doch ist der Schaden durch den Wassermangel heute wohl irreparabel.
Glücklicherweise bin ich nicht mit der Erwartungshaltung gestartet, dass dies ein entspannter Spaziergang werden würde. Trotzdem bin ich froh über das bevorstehende Saisonende in wenigen Kilometern.
Ich beiße mich durch. Schon bald sind die Ruinen des Klosters Walkenried, ein weiteres Weltkulturerbe entlang der Strecke, hoch über den langsam kahl werdenden Laubbäumen sichtbar.
Kaum vorstellbar, welches Unwohlsein 1524 die Bauern während der Revolution des gemeinen Mannes dazu verleitete, für eine erste Formulierung von Menschenrechten zu kämpfen und dabei das Kloster stark zu beschädigen. Im Gegensatz dazu ist mein Unwohlsein doch ertragbar – und vor allem ist es selbstverschuldet, was wir Läufer uns doch mal öfter vor Augen führen sollten, wenn wir jammern.
Jubelrufe von Eltern und Freundin vertreiben diesen Gedanken. Einen Zielbogen suche ich natürlich vergeblich, aber eine Informationstafel, wie schon auf der anderen Seite des Harzer, finde ich zum Abklatschen. Dies tu ich nach 10:32h mit großer Erleichterung. Somit habe ich nicht nur den vorherigen FKT um einiges unterboten, sondern auch klar eine persönliche Bestleistung aufgestellt.
Wie nach jedem Wettkampf möchte ich mir auch nach dem heutigen Tag eine Pizza gönnen. Noch bevor auch das letzte übrig gebliebene Randstück aller Anwesenden verputzt ist, teile ich meine Einschätzung mit der Gruppe, dass der Kurs doch in weniger als 10h zu absolvieren sein sollte.
Mein Kumpel Tom Evans, gelegentlicher Zimmergenosse und Dritter beim Western States, hat sich angeboten, mich später bei diesem Vorhaben laufend zu unterstützen. Was für ihn ein entspannter Trainingslauf wäre, könnte für mich eine spannende Fortsetzung dieser Story sein.